Wenn die Dinge verschwimmen...
Über die Grenzen mit Julia van Hove
Als ich mit fünfzehn fasziniert meine Videokassette mit kids in Umlauf brachte, erntete ich fast durchweg angewiderte Blicke und verständnislose Kommentare. Die Szenen seien abstoßend, vom Regisseur des Films, Larry Clark, hatte sowieso noch niemand gehört und nach gefühlten fünf Minuten flog die Kassette raus. Hatte ich damals zu spießige Freunde?
Mit einundzwanzig wurde mir Matthew Barney nahe gelegt, sein Cremaster Cycle wurde 2002 im Kölner Museum Ludwig eröffnet. Auf einem Poster sah ich nur einen glatten Hintergrund und davor eine fabelgleiche Figur mit einem apricotfarbenen Seidentuch in den Mund gestopft, das das herausquellende Blut aufsaugte. Nein, da ging mir der Schauder, das war zu viel.
Manche Bilder stoßen schnell an die innere Belastbarkeit. Da ist Ekel eine der Grenzformen, Moral ist eine mannigfaltige Weitere. Sie verbindet Handlungsmuster, Konventionen, Regeln, Prinzipien, Werte, man könnte stark vereinfacht auch von Gewohnheiten sprechen. Während Moral im religiösen Kontext gefährlich werden kann, macht die Kunst im weitesten Sinne die Moral zu einem unterhaltsamen und höchst spannenden Spielgefährten. Ohne Moral keine Provokation. Und provozieren lassen kann man sich schnell. Alice Schwarzer bezeichnete die Arbeiten des Fotografen Helmut Newton einst als sexistisch und rassistisch; er selbst begann seine große Karriere bei den internationalen Ausgaben der Vogue, welche meist von weiblichen Chefredakteuren geführt wurde. Ich persönlich tobte vor Glück, als ich mit siebzehn meinen ersten Helmut Newton Taschen-Kalender in Händen hielt.
Wenn ich innere Grenzen zu meinem aktuellen Kopfthema erkläre, streifen jene Menschen mein gedankliches Raster, die eine engstirnige Auffassung von der Welt haben und die Dinge aus ihrer kleinen Perspektive betrachten möchten, da dies der einfachste Weg ist. Provokation ist dann Auffallen um jeden Preis – stimmt manchmal auch. Aber in der Regel nicht. Provokation ist vielmehr Werkzeug oder gänzlich unbeabsichtigt.
Mit seinem Debut-Film kids tat Larry Clark damals genau das, was er in seiner Haupttätigkeit als Fotograf machte: er dokumentierte Jugendliche. Die Themen Sex und Drogen wurden dabei nicht tabuisiert oder zensiert. Gegensätzlich handelte da das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, das derzeit Clarks umfassende Ausstellung kiss the past hello zeigt. Eintritt erst ab achtzehn – um eventuellen Klagen vorzubeugen, heißt es. Der Künstler hatte wohl die moralische Grenze des Museums überschritten. Dabei sind die Protagonisten großenteils minderjährig und die Motive im Internet frei zugänglich.
Mit dreiundzwanzig studierte ich in England und nahm ein Bild aus Matthew Barneys Cremaster 3 als Farbinspiration für ein Kursprojekt. Und zwar exakt selbiges, welches mich zwei Jahre zuvor vom Ausstellungsbesuch abhielt. Plötzlich war ich fasziniert von der akkuraten Ästhetik, von der perfekten Inszenierung. Grenzen verschwimmen also, schloss ich daraus. Vielleicht würden meine Freunde aus der damaligen Zeit nun auch Larry Clarks Arbeit anders betrachten.
Einige Jahre später saß ich dann in einem kleinen Kulturkino und gab mir den Cremaster 4 in Bewegtbild. Begleitet wurde ich von einer Freundin, die gerne mal was mit Kunst sieht, aber nicht mit großem Hintergrund verfolgt. Auf der Leinwand lief also ein Kunstfilm vor einem Kunstpublikum. Ein rothaariger Ziegenmann mit abstehenden Ohren steppte sich in 20er Jahre Schuhen ein Loch durch den Boden, während nackte, schwanzlose Bodybuilder mit roten Perücken und Stöckelschuhen die Taschen seines Anzugs durchwühlten. Meine Begleitung brach in lautes Gelächter aus. Ich zögerte anfangs, aber lieber Himmel, es war urkomisch. Das für die Kunst so offene, grenzenlos tolerante Kennerpublikum blinzelte uns verachtend entgegen. Zack, Grenze erreicht.
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